Teilbetriebsübergang und die Stilllegung des Restbetriebs in der Insolvenz: Entfall des Erfordernisses einer betriebsbezogenen Sozialauswahl? | Re.Work | GÖRG Blog

Teilbetriebsübergang und die Stilllegung des Restbetriebs in der Insolvenz: Entfall des Erfordernisses einer betriebsbezogenen Sozialauswahl?

Die Insolvenzordnung gebietet die schnelle und effektive Abwicklung insolventer Unternehmen. Ziel des Insolvenzverfahrens ist dabei stets die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger. Wird hierfür das Vermögen verwertet, stellt der Verkauf und die Übertragung des insolventen Unternehmens gegenüber der Zerschlagung regelmäßig das ertragreichere und somit vorzugswürdigere Instrument der Insolvenzabwicklung dar. Dies gilt auch im Hinblick auf das gesellschaftliche Interesse, durch die Fortführung des Geschäftsbetriebs möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten.

Insbesondere bei größeren Betriebsstrukturen lässt sich im Rahmen des Investorenprozesses allerdings häufig kein Erwerber für das gesamte Unternehmen finden. Stattdessen tritt die Konstellation auf, dass potenziellen Erwerber lediglich an den einzelnen Betrieben bzw. Betriebsteilen des insolventen Unternehmens interessiert sind, deren Übernahme für sie wirtschaftlich sinnvoll erscheint. Kann im Ergebnis nur ein Teil des Unternehmens erfolgreich veräußert werden, verbleibt für das restliche Unternehmen lediglich die endgültige insolvenzbedingte Stilllegung. Aus dem damit verbundenen dauerhaften Entfall des Beschäftigungsbedarfs folgt wiederum zwangsläufig die Kündigung aller verbliebenen Arbeitsverhältnisse.

Keine Beschränkung der Sozialauswahl auf den stillzulegenden Betriebsteil

Im Falle eines Teilbetriebsübergangs und der vorgezogenen bzw. zeitgleichen Stilllegung des Restbetriebs galt dabei für die betriebsbedingten Kündigungen bislang zwingend das Gebot der betriebseinheitlichen Sozialauswahl. So war die Auswahlentscheidung des § 1 Abs. 3 KSchG nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) - ungeachtet des bevorstehenden Betriebsteilübergangs - ausnahmslos auf alle (vergleichbaren) Arbeitnehmer des Veräußererbetriebs im Ganzen zu erstrecken. Dies hatte oftmals zur Folge, dass mit dem Betriebsteil nicht etwa die Arbeitnehmer übergingen, die bislang für den veräußerten Betriebsteil tatsächlich tätig und in diesen eingegliedert waren, sondern die sozial schutzwürdigsten Arbeitnehmer des Betriebs, auch wenn deren Arbeitsverhältnisse zuvor keine inhaltliche Verbindung zu der wirtschaftlichen Einheit aufwiesen. Eine Beschränkung der Sozialauswahl auf die Arbeitnehmer des Restbetriebs war hingegen nur möglich, wenn der Betriebsteilübergang bereits vor der Stilllegung und dem Ausspruch der damit verbundenen Kündigungen vollzogen war, der Veräußererbetrieb im Zeitpunkt der stilllegungsbedingten Kündigungen also bereits auf den Restbetrieb reduziert war.

Insolvente Veräußerer sahen sich daher regelmäßig folgendem Konflikt ausgesetzt: Entweder kamen sie dem Interesse des Erwerbers an einem bestimmten Betriebsteil und den zugehörigen Arbeitnehmern nach, riskierten aber gegebenenfalls die Unwirksamkeit der stilllegungsbedingten Kündigungen. Oder sie setzten konsequent eine betriebsbezogene Sozialauswahl inklusive der notwendigen Versetzungen der schutzwürdigen und weniger schutzwürdigen Arbeitnehmer um, gefährdeten aber gleichzeitig die lukrative und arbeitsplatzerhaltende Veräußerung im Ganzen und liefen darüber hinaus Gefahr, durch das Hinauszögern der Stilllegung und der entsprechenden Kündigungen für den Restbetrieb gegebenenfalls sogar gegen insolvenzrechtliche Verpflichtungen zu verstoßen.

Unvereinbarkeit des Erfordernisses einer betriebsbezogenen Sozialauswahl mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs

Neue Perspektiven für diesen Konflikt und die wirksame Gestaltung betriebsbedingter Kündigungen im Falle eines Teilbetriebsübergangs und der Stilllegung des Restbetriebs eröffnet die neueste Rechtsprechung des BAG. So haben sowohl der 8. als auch der 6. Senat des BAG im Rahmen der sog. Air-Berlin-Entscheidungen vom 27.2.2020 (BAG, Urt. v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19) sowie vom 14.5.2020 (BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19) deutliche Zweifel geäußert, ob vor dem Hintergrund des zwingenden Charakters des Betriebsübergangsrechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (Richtlinie 2001/23/EG) zukünftig noch an der bisherigen Erfordernis einer betriebsbezogenen Sozialauswahl festgehalten werden kann. Insofern stellt das BAG klar, dass der Schutz der Richtlinie - ausschließlich - den in dem übergehenden Betriebsteil tatsächlich beschäftigten Arbeitnehmern gilt, deren bestehende Arbeitsverhältnisse durch den Betriebsteilübergang unberührt bleiben müssen. Nur die dem übergehenden Betriebsteil als wirtschaftliche Einheit zugeordneten Arbeitsverhältnisse seien von § 613 a Abs. 1 S. 1 BGB erfasst, wobei eine wirtschaftliche Einheit nicht nachträglich geschaffen werden könne. Eine mangelnde Zuordbarkeit von Arbeitnehmern zu dem übergehenden Betriebsteil lasse sich daher auch nicht durch eine betriebsbezogene, erst Recht nicht durch eine „nachträgliche“ Sozialauswahl substituieren. Vielmehr gilt: Geht ein Betriebsteil auf den Erwerber über, gehen mit diesem sämtliche dem Betriebsteil zugeordnete Arbeitnehmer ohne Weiteres - ipso iure - über und scheiden damit aus der Sozialauswahl für den Restbetrieb aus.

Im Ergebnis kam es in den konkreten Fällen auf die Rechtsfrage der Vereinbarkeit des Erfordernisses einer betriebsbezogenen Sozialauswahl mit dem geltenden Betriebsübergangsrecht zwar nicht entscheidend an, aus den rechtlichen Hinweisen des BAG wird jedoch deutlich, dass im Anwendungsbereich der Richtlinie - unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge des Teilbetriebsübergangs und der insolvenzbedingten Stilllegung des verbliebenen Restbetriebs - kein Spielraum für eine betriebsbezogene Sozialauswahl mehr besteht und abweichend von der bisherigen Rechtsprechung zukünftig ausschließlich auf den stillzulegenden Restbetrieb abzustellen ist. Es würde dem Schutz der Richtlinie klar entgegenstehen, wenn dieser zum Nachteil der dem übergehenden Betriebsteil zugeordneten Arbeitnehmer lediglich durch den zeitlichen Zusammenfall des Betriebsteilübergangs und der Stilllegung ausgehebelt würde, obwohl die Übernahme bereits unmittelbar bevorsteht.

Relevanz für die Praxis

Durch die Entscheidungen des BAG gewinnt die klare Zuordnung der Arbeitnehmer zu den einzelnen Betrieben und Betriebsteilen abermals deutlich an Relevanz. Insofern ist davon auszugehen, dass es im Rahmen etwaiger Rechtsstreitigkeiten über die Wirksamkeit der stilllegungsbedingten Kündigungen in Zukunft nicht mehr vorrangig auf die ordnungsgemäße Durchführung der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ankommen wird, sondern vielmehr darauf, ob der klagende Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Kündigungserklärung dem übergegangenen Betriebsteil oder dem stillgelegten Restbetrieb zugeordnet war. Liegt diesbezüglich kein ausdrücklicher oder konkludenter Wille der Arbeitsvertragsparteien vor, wird die tatsächliche Eingliederung und der Schwerpunkt der Tätigkeit des Arbeitnehmers den Ausschlag geben.

Zu beachten ist, dass das Direktionsrechts des veräußernden Arbeitgebers grundsätzlich bis zum Zeitpunkt des Betriebsteilübergangs besteht und ein Arbeitnehmer auch bei einer Versetzung erst wenige Tage zuvor dem übergehenden Betriebsteil doch zumindest im Zeitpunkt des Betriebsteilübergangs zuzuordnen ist. Der zwingende Charakter des Betriebsübergangsrechts schlägt sich allerdings auch im Rahmen der Zuordnungsentscheidung nieder, dessen Schutzzweck darf also nicht durch kurzfristige Zuweisungen umgangen werden.

Wie lange ein Arbeitnehmer in dem übergehenden Betriebsteil tatsächlich eingegliedert gewesen sein muss, um eine hinreichende Zuordnung zu diesem zu begründen und eine missbräuchliche Umgehung nach dem zeitlichen Schwerpunkt auszuschließen, ist nicht höchstrichterlich entschieden. Nach dem Landesarbeitsgericht Köln soll eine strukturelle Einbindung von mehr als einem halben Jahr jedenfalls ausreichend sein (LAG Köln, Urt. v. 4.12.2018 – 4 Sa 962/17). Letztlich wird es hier auf den Einzelfall ankommen. Fest steht aber, dass es im Rahmen insolvenzbedingter Teilbetriebsübergänge und Teilbetriebsstilllegungen in Zukunft unvermeidbar sein wird, sich frühzeitig und sorgfältig mit der Zuordnung der Arbeitnehmer zu den Betriebsteilen auseinanderzusetzen.

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