Gestaltungsspielräume bei der Sozialauswahl (als Anwendungsfall von Legal-Tech) | Re.Work | GÖRG Blog

Gestaltungsspielräume bei der Sozialauswahl (als Anwendungsfall von Legal-Tech)

Kommt es bei arbeitsrechtlichen Restrukturierungen, insbesondere Betriebsänderungen, zu betriebsbedingten Kündigungen, spielt die Sozialauswahl eine zentrale Rolle. Denn werden die hierfür geltenden gesetzlichen Vorgaben nicht ausreichend berücksichtigt, kann dies zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Der Auswahlprozess und die Ergebnisse der Sozialauswahl sind in aller Regel ein wesentlicher Inhalt der Verhandlungen von Arbeitgeber und Betriebsrat zum Interessenausgleich, insbesondere wenn es um die Gestaltung einer „Namensliste“ geht.

Die gesetzlichen Vorgaben zur Sozialauswahl stecken dabei zwar einen Rahmen ab, überlassen Arbeitgeber (und ggf. Betriebsrat) aber innerhalb dieser Leitplanken zum Teil weite Beurteilungsspielräume.

Bei Durchführung der Sozialauswahl sind stets große Datenmengen zu verwalten und im Blick zu behalten. Wird an einzelnen Stellschrauben der Sozialauswahl gedreht, kann dies erhebliche Wechselwirkungen und (unerwünschte) Konsequenzen für das Gesamtergebnis der Sozialauswahl haben. Eine „analog“ durchgeführte Sozialauswahl stößt daher schnell an ihre Grenzen. Auch die in der Praxis meist eingesetzten Excel-Listen sind in ihrem Funktionsumfang stark limitiert und bergen nicht unerhebliche Fehlerpotentiale.

Wir haben daher ein eigenständiges Legal-Tech-Tool entwickelt, welches u.a. den Prozess der Sozialauswahl schneller und rechtssicherer macht und im Rahmen der gegebenen rechtlichen Möglichkeiten Potentiale zur Optimierung aufzeigt.

Mit diesem Beitrag möchten wir einen kurzen Überblick über die zu beachtenden Vorgaben der Sozialauswahl geben, aber auch die vorhandenen Spielräume und Stellschrauben skizzieren und aufzeigen, wie diese mit den Möglichkeiten einer modernen Legal-Tech-Applikation optimal genutzt werden können.

Gesetzliche Vorgaben der Sozialauswahl

Die Grundstruktur der Sozialauswahl ist vorgegeben. Sie erfolgt im Wesentlichen in den folgenden Schritten:

  1. Vergleichsgruppenbildung

Zunächst muss ermittelt werden, welche Arbeitnehmer miteinander vergleichbar und daher überhaupt in die Sozialauswahl einzubeziehen sind. Das sind jeweils die Arbeitnehmer, die untereinander austauschbar sind, mithin vergleichbare Arbeitsplätze haben und auf derselben Hierarchiestufe stehen. Dabei sind abteilungsübergreifend grundsätzliche alle Arbeitnehmer des Betriebes in Betracht zu ziehen. Eine Vergleichbarkeit zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzten ist aufgrund der unterschiedlichen Hierarchieebenen grundsätzlich ausgeschlossen. Eine Vergleichbarkeit ist meist dann gegeben, wenn der betroffene Arbeitnehmer durch Weisung des Arbeitgebers auf den Arbeitsplatz des anderen Arbeitnehmers versetzt werden kann, ohne dass eine Änderung des Arbeitsvertrages notwendig ist. Eine Einarbeitungszeit von zumutbarer Dauer steht der Vergleichbarkeit dabei nicht entgegen.

Bei umfassenden Restrukturierungsmaßnahmen werden daher zunächst Vergleichsgruppen gebildet und die Arbeitnehmer diesen zugeordnet.

Zu beachten sind dabei auch Tatbestände von Sonderkündigungsschutz, wie beispielsweise der Schutz aus persönlichen Gründen (Schwerbehinderung, Schwangerschaft, Elternzeit, Pflegezeit) oder von Funktionsträgern (Betriebsrat, Wahlbewerber, Datenschutzbeauftragter, etc.). Diese besonders geschützten Arbeitnehmer sind grundsätzlich nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen.

  1. Berücksichtigung der Auswahlkriterien

Wurde die Gruppenbildung festgelegt, kann innerhalb dieser Gruppen eine Auswahlentscheidung nach sozialen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Dabei sind gemäß § 1 Abs. 3 KSchG zwingend die folgenden vier Auswahlkriterien zu berücksichtigen:

  • Dauer der Betriebszugehörigkeit,
  • Lebensalter,
  • Gesetzliche Unterhaltspflichten und
  • Mögliche Schwerbehinderung der Arbeitnehmer.

Mit welcher Wertigkeit die einzelnen Kriterien zu gewichten sind, lässt das Gesetz offen. Dem Arbeitgeber (und ggf. Betriebsrat) steht hier ein Beurteilungs- und damit letztlich auch Verhandlungsspielraum zu, der in der Regel durch Vereinbarung eines sog. Punkteschemas genutzt wird. Dabei wird für jedes Kriterium ein bestimmter Punktwert festgelegt und mittels Addition die Summe der Sozialpunkte errechnet. Innerhalb der jeweiligen Vergleichsgruppen wird so eine Rangfolge erstellt, wobei die Arbeitnehmer mit den niedrigsten Punkten am wenigsten schutzbedürftig und somit vorrangig von Kündigung betroffen sind.

Die Vereinbarung eines solchen Punkteschemas ist zwar nicht zwingend, aber in der Regel empfehlenswert, um ein faires und transparentes Auswahlergebnis zu erreichen.

  1. Ausnahmen von der Sozialauswahl („Leistungsträger“)

In einem dritten Schritt kann (und darf) in das derart ermittelte vorläufige Ergebnis der Sozialauswahl eingegriffen werden. Liegt die Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmern, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen, im berechtigten betrieblichen Interesse, können diese von der Sozialauswahl ausgenommen werden. Dies erlaubt es, gegenüber Arbeitnehmern, die als „Leistungsträger“ einzustufen sind, vom Ausspruch einer Kündigung auch dann abzusehen, wenn sie nach ihren Sozialpunkten „eigentlich“ von Kündigung betroffen wären. An ihrer Stelle kann dann nach Maßgabe der Sozialauswahl der eigentlich nächst schutzwürdigere Arbeitnehmer gekündigt werden.

Die Ausnahme von Leistungsträgern ist in Kündigungsschutzverfahren von den „stattdessen“ gekündigten, sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmern daher fast immer einer der zentralen Streitpunkte. Da die Voraussetzungen für die Ausnahme der Leistungsträger durch Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen sind, ergeben sich häufig nicht unerhebliche Prozessrisiken.

Beurteilungsspielräume und "Stellschrauben"

Praktisch auf allen Stufen der Sozialauswahl bieten sich für den Arbeitgeber Beurteilungsspielräume und Stellschrauben, um in rechtlich zulässigem Maß auf das Ergebnis der Sozialauswahl Einfluss zu nehmen. Gerade bei umfangreicheren Restrukturierungsmaßnahmen ist es meist unabdingbar hiervon Gebrauch zu machen, um die Funktions- und Zukunftsfähigkeit des Betriebes zu erhalten. Können sich Arbeitgeber und Betriebsrat auf einen Interessenausgleich mit „Namensliste“ verständigen, sind die Spielräume nochmals größer, da eine gerichtliche Überprüfung der Sozialauswahl in diesem Fall nur anhand des stark eingeschränkten Maßstabs der „groben Fehlerhaftigkeit“ erfolgt.

  1. Bildung der Vergleichsgruppen

Besonderes Augenmerk ist zunächst auf die Bildung der Vergleichsgruppen zu legen. Hierbei ist sorgfältig abzuwägen, welche Einarbeitungszeiten erforderlich sind und welche Arbeitsplätze miteinander vergleichbar sind. Verschiedene objektive Daten können hier als Kriterien herangezogen werden. Bei tarifgebundenen Unternehmen kann hierzu insbesondere bei einfacheren Tätigkeiten die identische tarifliche Eingruppierung als Indiz für die bestehende Vergleichbarkeit fungieren.

Wird mit dem Betriebsrat eine Namensliste vereinbart, genügen bereits gut nachvollziehbare und ersichtlich nicht auf Missbrauch zielende Überlegungen für die getroffene Bestimmung des auswahlrelevanten Personenkreises.

  1. Bildung von Altersgruppen

Um eine ausgewogene Personalstruktur zu erhalten und eine Überalterung der Belegschaft zu verhindern, können zudem sog. „Altersgruppen“ gebildet werden. Hierbei werden größere Vergleichsgruppen nach definierten Altersstufen jeweils in Untergruppen aufgeteilt. Die Sozialauswahl nach Punkten erfolgt dann jeweils innerhalb dieser Altersgruppen. Die Gesamtzahl der in der Vergleichsgruppe auszusprechenden Kündigungen wird dann proportional auf die einzelnen Altersgruppen verteilt. Dabei darf - außerhalb von Insolvenzverfahren - die bestehende Altersstruktur nur „gesichert“ (nicht aber verbessert) werden.

Die Zulässigkeit von Altersgruppen ist allerdings nicht unumstritten. Teilweise wird angeführt, dass die Bildung von Altersgruppen europarechtswidrig sei, da sie zur Diskriminierung von älteren Beschäftigten führe. Andererseits wird gerade durch die (doppelte) Berücksichtigung von Alter und Dienstjahren den älteren Arbeitnehmern in der Regel ein Vorteil gegenüber jüngeren Arbeitnehmern eingeräumt. Dieser Effekt, der strukturell jüngere Arbeitnehmer benachteiligt, kann durch die Bildung von Altersgruppen teilweise neutralisiert werden. Das Bundesarbeitsgericht geht grundsätzlich von der Zulässigkeit von Altersgruppen aus, prüft aber anhand strenger Kriterien, ob im konkreten Einzelfall die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung von Altersgruppen erfüllt sind.

  1. Auswahl des Punkteschemas

Da kein allgemein verbindlicher Bewertungsmaßstab für die Gewichtung und Bewertung der einzelnen Sozialkriterien existiert, haben Arbeitgeber und Betriebsrat bei der Verteilung von Punkten einen gewissen Beurteilungsspielraum. Dabei müssen jedoch alle vier Kriterien „ausreichende“ Berücksichtigung finden, d.h. es müssen alle Kriterien „bepunktet“ werden.

In der Praxis hat sich eine Vielzahl unterschiedlicher und zum Teil deutlich voneinander abweichender Punkteschemata etabliert, deren Zulässigkeit durch die Rechtsprechung bestätigt wurde. Aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung der Sozialkriterien ergeben sich nicht selten erhebliche Unterschiede im – letztlich interessierenden – Ergebnis der Sozialauswahl.

Die Auswahl eines passenden Punkteschemas kann daher für den Erfolg einer Restrukturierung von zentraler Bedeutung sein.

  1. Rentennahe Arbeitnehmer

Bei Durchführung der Sozialauswahl sind oft Arbeitnehmer, die kurz vor dem Renteneintritt stehen, aufgrund ihrer hohen Punktzahl geschützt. Dies hätte jedoch zur Konsequenz, dass andere Arbeitnehmer, die „mitten im Erwerbsleben“ stehen, nach dem Ergebnis der Sozialauswahl gekündigt werden müssten. Bei rentennahen Jahrgängen dürfen Arbeitgeber und Betriebsrat daher von der strikten Auswahl nach Punkten absehen, sofern diese Arbeitnehmer durch den Bezug einer (ggf. vorgezogenen) Regelaltersrente weitgehend wirtschaftlich abgesichert sind. Der EuGH hält jedoch eine Anknüpfung an die Möglichkeit, Altersrente wegen Schwerbehinderung zu beziehen, für unzulässig.

Sozialauswahl-Tool

Die Vielzahl an Daten, die für eine Sozialauswahl Berücksichtigung finden und die jeweiligen Prozesse mit ihren Querverweisen und Auswirkungen eignen sich hervorragend als Anwendungsfall für Legal-Tech. Deshalb haben wir bei GÖRG ein Sozialauswahl-Tool entwickelt, das nicht nur die Handhabung, Validierung und Weiterverarbeitung der Daten erleichtert, sondern die o.g. Spielräume aufzeigt und innerhalb dieser Grenzen automatische Vorschläge für eine rechtssichere Sozialauswahl generiert. Dabei wird nicht nur ermittelt, welches Punkteschema für die konkrete Restrukturierung am besten geeignet ist, sondern es werden auch von vorneherein potentielle Fehlerquellen bei der Sozialauswahl ausgeschlossen. So berücksichtigt das Tool etwa Sonderkündigungsschutztatbestände ebenso wie die Rentennähe von Arbeitnehmern und das Vorhandensein geeigneter freier Arbeitsplätze, die den von Kündigung betroffenen Arbeitnehmern ggf. an anderen Standorten des Unternehmens angeboten werden können. Auch die Bildung von Altersgruppen (in größeren Vergleichsgruppen) wird von dem Tool angeboten und automatisch durchgeführt. Jederzeit lassen sich alle Daten im gewünschten Umfang und zur beliebigen Weiterverarbeitung exportieren, damit den jeweiligen Projektbeteiligten (Mandant, Betriebsrat, Transfergesellschaft, M&A-Prozess) entsprechend konfigurierte Datensätze zur Verfügung gestellt werden können. Alle wesentlichen Parameter (etwa Kündigungstermine etc.) und wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahme auf die Personalkostenstruktur werden ebenso wie die Kosten eines möglichen Sozialplans berechnet. Schließlich wird die Rechtssicherheit auch dadurch erhöht, dass die für das in der Praxis oft fehleranfällige Massenentlassungsanzeigeverfahren notwendigen Daten automatisch durch das Tool bereitgestellt werden.

Alles in allem erlaubt uns das Sozialauswahl-Tool, arbeitsrechtliche Restrukturierungsmaßnahmen für unsere Mandanten (noch) schneller, effizienter, transparenter und vor allem rechtssicherer zu gestalten und umzusetzen.

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