Rechtsprechung zu „Soll-Angaben“ in der Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG – Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hessen vom 25. Juni 2021 | Re.Work | GÖRG Blog

Rechtsprechung zu „Soll-Angaben“ in der Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG – Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hessen vom 25. Juni 2021

I. Einleitung

Entlässt der Arbeitgeber innerhalb eines Zeitraums von 30 Kalendertagen eine bestimmte, von der Betriebsgröße abhängige, Anzahl von Arbeitnehmern, ist er aufgrund der sozioökonomischen Auswirkungen, die eine solche Massenentlassung für die betroffene Gegend haben kann, nach § 17 KSchG verpflichtet diese Kündigungen der zuständigen Agentur für Arbeit im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige vor Ausspruch der Kündigungen anzuzeigen.

Die bisherige Rechtsprechung und vorherrschende Literatur unterschied für solche Massenentlassungsanzeigen zwischen den sog. „Muss-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG auf der einen Seite und den „Soll-Angaben“ gem. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG auf der anderen Seite. Die „Muss-Angaben“ umfassen dabei Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes, die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Die „Soll-Angaben“ umfassen Angaben über das Geschlecht, das Alter, den Beruf und die Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer.

Während ausgebliebene oder fehlerhafte „Muss-Angaben“ nach § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 134 BGB unumstritten zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führen, wurden die „Soll-Angaben“ als freiwillige Angaben des Arbeitgebers verstanden. Fehler, Unvollständigkeiten aber auch das vollständige Weglassen dieser Angaben hatten auf die Wirksamkeit der Kündigungen keine Auswirkungen.

Mit diesem bisherigen Verständnis des § 17 KSchG, das sich auch in den entsprechenden Vordrucken zur Massenentlassungsanzeige der Bundesagentur für Arbeit wiederfindet, hat das Landesarbeitsgericht Hessen (Urteil vom 25.06.2021 – 14 Sa 1225/20) nun gebrochen.

II. Sachverhalt der Entscheidung

Die beklagte Arbeitgeberin sprach im Zeitraum vom 18. Juni 2019 bis zum 18. Juli 2019 in einem Betrieb mit 21 regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern insgesamt 17 betriebsbedingte Kündigungen aus. Der klagenden Arbeitnehmerin ging die Kündigungserklärung dabei am 19. Juni 2019 zu.

Zuvor hatte die Arbeitgeberin bei der zuständigen Agentur für Arbeit in Bad Homburg eine Massenentlassungsanzeige eingereicht, die dort am 18. Juni 2019 zuging. Diese Massenentlassungsanzeige enthielt zwar die „Muss-Angaben“ des § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG. Die Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer reichte die Arbeitgeberin jedoch erst am 23. Juli 2019 – also nach Ausspruch der Kündigungen – bei der Agentur für Arbeit nach.

Bereits das Arbeitsgericht Frankfurt gab der Kündigungsschutzklage der klagenden Arbeitnehmerin in 1. Instanz statt und erklärte die Kündigung vom 19. Juni 2019 mit der Begründung für unwirksam, dass die Massenentlassungsanzeige vom 18. Juni 2019 aufgrund der fehlenden Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit unwirksam gewesen sei und daraus die Unwirksamkeit der Kündigung folge.

Dies hat das LAG Hessen in 2. Instanz nunmehr bestätigt.

III. Entscheidung des LAG Hessen

Das LAG Hessen hat die Kündigung der Klägerin gem. § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 134 BGB für unwirksam erklärt, da vor Ausspruch der Kündigung keine wirksame Massenentlassungsanzeige vorgelegen habe.

Die „Soll-Angaben“ des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG seien danach keine freiwilligen Angaben des Arbeitgebers, sondern zumindest dann zwingend bei der Agentur für Arbeit einzureichen, wenn der Arbeitgeber in der Lage ist, diese Angaben – gegebenenfalls mit entsprechenden Nachforschungen – zu erbringen.

Da § 17 KSchG die europäische Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG, im Folgenden: „MERL“) umsetzt, kommt es nach dem LAG Hessen maßgeblich darauf an, dass die Massenentlassungsanzeige nach Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 3 MERL „alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung (…) enthalten“ muss. Die MERL kenne dabei keine Unterscheidung zwischen „Muss-Angaben“ und „Soll-Angaben“. Da die MERL weiter der Abfederung der sozioökonomischen Auswirkungen einer solchen Massenentlassung dient, seien auch die Angaben des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit an die zuständige Agentur für Arbeit zweckdienlich und daher zu erbringen. Nicht nur sind diese Angaben für die Einschätzung der sozioökonomischen Auswirkungen der Entlassungen zweckdienlich, sie können der Agentur für Arbeit auch bei der Vorbereitung der zu entfaltenden Vermittlungsbemühungen für die entlassenden Arbeitnehmer dienen.

Nach dem Landesarbeitsgericht Hessen zeigt der Wortlaut des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG, der nur besagt, dass diese Angaben gemacht werden „sollen“, lediglich, dass diese Angaben dann ausbleiben können, wenn der Arbeitgeber auch nach entsprechenden Nachforschungen keine Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit machen kann. Sobald er hierzu aber in der Lage ist, führen Fehler in den „Soll-Angaben“ ebenso zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen wie Fehler in den „Muss-Angaben“.

IV. Auswirkungen auf die Praxis

Das LAG Hessen hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht in dieser Entscheidung aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage zugelassen. Zumindest bis zu einer solchen Entscheidung des BAG sind in Zukunft bei der Erstellung von Massenentlassungsanzeigen zusätzlich zu den „Muss-Angaben“ auch die bisher als „Soll-Angaben“ bezeichneten Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit zwingend zu erbringen, da ansonsten die Unwirksamkeit der auszusprechenden Kündigungen droht. Da das LAG Hessen die hierbei erforderlichen Nachforschungsmaßnahmen des Arbeitgebers nicht genauer spezifiziert und dadurch unklar ist, wann ausnahmsweise auf diese Angaben verzichtet werden kann, wird die – ohnehin schwierige – Erstellung einer fehlerfreien und wirksamen Massenentlassungsanzeige dadurch bis auf Weiteres zusätzlich erschwert. Auch wenn es sich bei den nunmehr erforderlichen Angaben zumeist um Angaben handelt, von denen der Arbeitgeber ohnehin Kenntnis hat, ist die Vollständigkeit dieser Informationen bei der Vorbereitung zukünftiger Massenentlassungsanzeigen zu berücksichtigen und sicherzustellen.

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